Primär-Erkenntnis
Eine allgemeine Unterteilung des Geistes ist die in Primärerkenntnis und Nicht-Primärerkenntnis. „Primär“ hat hier die Bedeutung von „perfekt“ oder „fehlerfrei“, während das, was nicht perfekt oder nicht fehlerfrei ist, als „Nicht-Primärerkenntnis“ bezeichnet wird. Die nun folgende Definition von Primärerkenntnis werden sicherlich viele der Studenten schon kennen, da sie auch schon in der Behandlung der philosophischen Schulen des Buddhismus vorkam.
Sie lautet:
Primärerkenntnis ist eine frische, ungetäuschte Erkenntnis.
Diese Definition entspricht der Auffassung der Sautrantika-Schule, auf deren Grundlage die Beschreibungen vom Geist und seinen Faktoren, von Geist und Erkenntnis zumeist gegeben werden. So wird es auch zunächst in den großen Klosteruniversitäten gelehrt. Im fortgesetzten Studium kommen dann die spezifischen Veränderungen und kleineren Korrekturen der Tschittamatra- und der Madhyamika-Schule hinzu.
In der Definition von Primärerkenntnis der Prasangika-Madhyamika-Schule entfällt zum Beispiel der Aspekt des Frischseins. Welche Bedeutung und welche Notwendigkeit hat der Ausdruck „frisch“ in der Definition? Der Sanskrit-Ausdruck für „Primärerkenntnis“ ist „Pramana“. Weil das Wort „primär“ in seiner Bedeutung und auch in seiner Aussprache diesem Wort „Pramana“ sehr ähnlich ist, verwenden wir in der Übersetzung gerne dieses Wort „Primärerkenntnis“. Die Wortwurzel von „primär“, „Primo“ und so weiter ist identisch mit der von „Pramana“. „Pra“ hat im Sanskrit die Bedeutungen von „Erstem“, „sehr gut“, „ausgezeichnet“, „Bestes“ und „Perfektes“. Weil in „Pra“ schon die Bedeutung von „Erstem“ enthalten ist, geht man in der Sautrantika-Schule davon aus, dass auch in der Definition dieses „frisch“ vorhanden sein muss. Folgende Vorstellung liegt dem zugrunde: Wenn ein Seh-Bewusstsein eine Blume betrachtet und diese Blume erkennt, dann ist der erste Augenblick des Erkennens dieser Blume eine Primärerkenntnis. Die Augenblicke, die nach diesem ersten Erkennen folgen, gelten dann nicht mehr als „Primärerkenntnis“. Das ist der Grund, warum in der Definition dieses Wortes der Ausdruck „frisch“ enthalten ist.
Wir sehen also, dass Primärerkenntnis hier als ein Zustand des Geistes betrachtet wird, der nicht lange, sondern nur einen Augenblick andauert. Nach dem ersten Augenblick folgt dann, wenn die Wahrnehmung, das Erfassen des Objektes weiter korrekt ist, ein Zustand des Geistes, der als „Folgeerkenntnis“ bezeichnet wird und dessen Definition „Erkenntnis von schon Erkanntem“ lautet. Sie erkennt also nichts Neues, sondern etwas, das vorher schon erkannt worden ist.
In der Madhyamika-Schule ist man der Auffassung, dass das, was hier als „Folgeerkenntnis“ bezeichnet wird, Primärerkenntnis sein kann, weil eine Primärerkenntnis nicht unbedingt frisch, also nicht der erste Augenblick einer Erkenntnis sein muss. Wenn sie eine fehlerfreie Erkenntnis ist, dann ist es Grund genug, sie auch als Primärerkenntnis anzusehen. „Pra“ bezieht sich in seiner Bedeutung gemäß dieser Interpretation nicht unbedingt auf „das Erste“, sondern auf „das Beste, Ausgezeichnete, Fehlerfreie“ einer Erkenntnis. Wenn also die Erkenntnis fehlerfrei ist, dann ist diese Bedingung erfüllt.
Da wir uns aber hier vor allem auf dem Boden der Sautrantika-Schule bewegen, ist die Definition von Primärerkenntnis demgemäß „eine frische, ungetäuschte Erkenntnis“. Der Ausdruck „frisch“ in dieser Definition macht deutlich, dass alle Zustände der Folgeerkenntnis keine Primärerkenntnis mehr sind; der Ausdruck „ungetäuscht“, dass alle Annahmen keine Primärerkenntnis sind; und der Ausdruck „Erkenntnis“, dass auch das physische Organ nicht als Primärerkenntnis zu sehen ist. Damit etwas Erkenntnis sein kann, muss es ein Zustand des Geistes sein, was auf ein physisches Organ nicht zutrifft. Dies sind die Begründungen, weshalb die Definition von Primärerkenntnis diese drei Worte „frisch“, „ungetäuscht“ und „Erkenntnis“ enthält.
In der weiteren Klassifizierung von Primärerkenntnis wird unterschieden zwischen:
• Primärwahrnehmung
• Primärschlussfolgerung.
Lassen wir hierbei einmal das Wort „Primär“ beiseite, können wir allgemein den Geist unterteilen in Wahrnehmung und Schlussfolgerung.
Wahrnehmung
Wahrnehmung ist folgendermaßen definiert:
Wahrnehmung ist eine ungetäuschte Erkenntnis, die frei von Vorstellung ist.
Das tibetische Wort „ngön sum“, das wir mit „Wahrnehmung“ übersetzen, hat den Anklang von direktem Erkennen. Dies macht deutlich, dass dieser Zustand des Geistes frei von Vorstellung ist.
Die weitere Unterteilung von Wahrnehmung unterscheidet zwischen Wahrnehmung der äußeren Bewusstseine, Wahrnehmung des Denksinns und yogischer Wahrnehmung. In den philosophischen Schulen, die zudem eine Selbsterkenntnis postulieren, also in der Sautrantika- und der Tschittamatra-Schule, kommt dann noch als Viertes die selbsterkennende Wahrnehmung hinzu. Die Madhyamika- und auch die Vaibhaschika-Schule hingegen akzeptieren Selbsterkenntnis nicht. Somit haben wir in dieser Klassifizierung der Wahrnehmung drei Elemente, die in allen Schulen Akzeptanz finden: die Wahrnehmung der äußeren Sinnesbewusstseine, die Wahrnehmung des Denkbewusstseins und die yogische Wahrnehmung. Die Wahrnehmung der Sinnesbewusstseine wird fünffach weiter unterteilt in die Wahrnehmung des Seh-Bewusstseins, des Hör-Bewusstseins, des Geruchs-Bewusstseins, des Geschmacks-Bewusstseins und des Tast-Bewusstseins.
Was ist nun die Definition einer Wahrnehmung der Sinnesbewusstseine? Sie lautet:
Die Wahrnehmung eines Sinnesbewusstseins ist eine vorstellungsfreie, ungetäuschte Erkenntnis, die auf der Grundlage ihres spezifischen Besitzumstands, dem entsprechenden physischen Organ entsteht.
Eine solche Wahrnehmung hat also die Eigenschaften, eine Erkenntnis zu sein, die ungetäuscht ist und frei von Vorstellung ist. Dieser Geisteszustand benötigt allerdings auch eine Grundlage, um entstehen zu können. Die Grundlage einer solchen Wahrnehmung ist ein Organ, in diesem Fall ein physisches Sinnesorgan, und diese Art von Grundlage wird als „Besitzumstand“ bezeichnet.
Was also ist ein Besitzumstand? Allgemein kann gesagt werden, dass ein Geisteszustand drei Umstände braucht, um entstehen zu können: den Besitzumstand, den Bezugsumstand und den augenblicklichen Umstand. Alle Zustände des Geistes benötigen diese drei Umstände des Entstehens. Der Besitzumstand ist die Basis, auf der ein Geisteszustand entstehen kann. Der Bezugsumstand ist das Objekt, auf dass der Geist sich bezieht. Wie wir gehört haben, ist jeder Geisteszustand ein Objektbesitzer. Er benötigt also ein Objekt, und das Objekt, das er erfasst, ist es, was als „Bezugsumstand“ bezeichnet wird. Der Bezugsumstand des Seh-Bewusstseins ist demnach Form. Der Besitzumstand eines Seh-Bewusstseins ist das Sehorgan. Der augenblickliche Umstand ist der im Augenblick zuvor bestehende Bewusstseinszustand, denn damit ein Seh-Bewusstsein entstehen kann, muss im Augenblick zuvor ebenfalls ein Seh-Bewusstsein vorhanden gewesen sein. So bildet der jeweils vorhergehende Augenblick eines Geisteszustandes den augenblicklichen Umstand des nachfolgenden. Aufgrund dieser drei Umstände entsteht ein Geisteszustand.
Die Definition einer Wahrnehmung der Sinnesbewusstseine verlangt also folgende Eigenschaften: Es muss eine Erkenntnis sein, die ungetäuscht und frei von Vorstellung ist; ferner muss sie auf der Grundlage ihres spezifischen Besitzumstands, dem physischen Organ entstanden sein. Das ist die Bedeutung einer Wahrnehmung des Sinnesbewusstseins. Dieses wird weiter unterteilt in Primärwahrnehmung des Sinnesbewusstseins und Folgeerkenntnis des Sinnesbewusstseins. Es gibt noch eine weitere Unterteilung, die wir im Moment aber nicht ansprechen, da ich hier zunächst einmal die Definitionen erläutern möchte und nicht gleich die Unterteilungen.
Eine Unterteilung, die wir hier jedoch aufführen sollten, ist die in die Wahrnehmung des Form-erfassenden Sinnesbewusstseins, des Klang-erfassenden Sinnesbewusstseins, des Geruch-erfassenden Sinnesbewusstseins, des Geschmack-erfassenden Sinnesbewusstseins und des Fühlbares-erfassenden Sinnesbewusstseins. Nun ist es nicht mehr schwer, eine Definition für jeden dieser fünf erwähnten Zustände des Geistes zu erstellen. Wir nehmen lediglich die vorab gegebene Definition der Wahrnehmung der Sinnesbewusstseine und fügen das spezifische Organ ein, das den Besitzumstand darstellt. Sie würde dann also für die Form-erfassende Sinneswahrnehmung heißen: „eine vorstellungsfreie, ungetäuschte Erkenntnis, die auf der Grundlage ihres spezifischen Besitzumstands, dem Sehorgan entsteht.“. Für die Klang-erfassende Sinneswahrnehmung lautet sie entsprechend: „eine vorstellungsfreie, ungetäuschte Erkenntnis, die auf der Grundlage ihres spezifischen Besitzumstands, dem Hörorgan entsteht.“. In analoger Weise sind dann die Definitionen für die anderen Sinneswahrnehmungen zu erstellen.
Als Nächstes folgt die Denkwahrnehmung. Die Definition lautet:
Die Denkwahrnehmung ist eine vorstellungsfreie, ungetäuschte Erkenntnis, die auf der Grundlage ihres spezifischen Besitzumstands, dem Denkorgan entsteht.
Was das Denkorgan ist, haben wir gestern schon gelernt: kein physisches Organ wie bei den Sinnesorganen, sondern der augenblicklich vorhergehende Moment des Denkbewusstseins. So bildet der vorhergehende Augenblick der Denkwahrnehmung das Organ für den nachfolgenden Augenblick. Solche Zustände der Denkwahrnehmung treten in gewöhnlichen Wesen nur für kürzeste Augenblicke auf. Wie wir anhand der Definition gesehen haben, muss eine Denkwahrnehmung frei von Vorstellung sein. Ein solches vorstellungsfreies Denkbewusstsein ist in uns gewöhnlichen Wesen jedoch kaum vorhanden und tritt dann im Allgemeinen auch nur einen Augenblick lang auf. Ist eine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit erlangt - das ist eine Fähigkeit, die man entwickeln kann -, dann ändert sich das allerdings.
Im Allgemeinen geht es so vor sich, dass nicht nur unsere Sinneswahrnehmungen alle diese äußeren Objekte wie Form und so weiter erfassen, sondern auch unser Denkbewusstsein. Wenn also die Sinneswahrnehmung - zum Beispiel über den Sehsinn - ein äußeres Objekt erfasst, ist auch eine Denkwahrnehmung dabei, die einen Augenblick lang dieses äußere Objekt ebenfalls miterfasst. Dies dauert jedoch nur diesen Augenblick lang, im nächsten Augenblick wird diese Denkwahrnehmung zu einer Vorstellung und ist somit keine Wahrnehmung mehr.
Was ist nun der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung? Die Wahrnehmung hat immer die Eigenschaft, ihr Objekt direkt zu erfassen, während die Vorstellung dies indirekt mithilfe eines Bedeutungsbildes tut. Die Vorstellung erzeugt ein geistiges Bild, welches nicht das eigentlich erfasste Objekt ist, sondern etwas, das ihm ähnlich ist. Dieses von der Vorstellung erzeugte Bild wird mit dem eigentlich erfassten Objekt vermischt. Geisteszustände, die ihr Objekt in einer solchen Weise erfassen, werden als „Vorstellung“ bezeichnet, im Gegensatz zu Wahrnehmungen, die ihr Objekt direkt, ohne Bedeutungsbild erfassen. Die Vorstellung einer Vase zum Beispiel ist ein Geisteszustand, der die Vase mithilfe eines Bedeutungsbildes erfasst. Er nimmt also ein vom Geist erstelltes Bild der Vase zu Hilfe, um sie sich vorzustellen.
Dieses Bedeutungsbild ist jedoch in keiner Weise die Vase selbst - sie ist nicht einmal ein Ding, sondern etwas Beständiges und Nichtzusammengesetztes. Eine Vase ist etwas Zusammengesetztes und Unbeständiges. Das jedoch, was der Vorstellung erscheint, dieses Bild, mit dessen Hilfe die Vorstellung die Vase erfasst, ist nicht zusammengesetzt und kein unbeständiges Objekt, sondern ein beständiges und Nichtzusammengesetztes Objekt. Dieses vorgestellte Bedeutungsbild und die Vase selbst sind beim Erfassen miteinander vermischt.
Das Vorstellungsbild wird unterteilt in ein sogenanntes „Klangbild“ und ein „Bedeutungsbild“. Die Vorstellung gibt dem Objekt einen Namen, wodurch das Klangbild entsteht. Demnach funktioniert sie so, dass ihr das Klang- und Bedeutungsbild eines erfassten Objektes erscheinen. Dies gilt für die Vorstellung, nicht jedoch für die Wahrnehmung, welche ohne diese Bilder funktioniert. So gibt es in uns gewöhnlichen Wesen beim Erfassen von Objekten mit der Wahrnehmung zwar Augenblicke des Denkbewusstseins, die sich allerdings sofort in Vorstellungen verwandeln, was diese Augenblicke des Denkbewusstseins unbedeutend macht.
Es wäre nun falsch zu denken, dass Vorstellung immer etwas Schlechtes ist - es gibt vielmehr gute und schlechte Vorstellungen. An dieser Stelle ist es wichtig zu verstehen, dass eine Vorstellung im Gegensatz zur Wahrnehmung kein direktes Erfassen des Objektes enthält. Allerdings muss auch gesagt werden, dass die Vorstellungen eine Schwäche, ein Fehler des Geistes sind, denn im Zustand der Erleuchtung gibt es keinerlei Vorstellungen mehr. Bei einem erleuchteten Wesen sind alle Vorgänge Wahrnehmungen, ganz gleich, ob Objekte mit dem Denk- oder dem Sinnesbewusstsein erfasst werden.
Es gibt also auch für uns gewöhnliche Wesen Denkwahrnehmungen, sie treten allerdings nur für einen Augenblick auf und sind ungesicherte Geisteszustände. Diese Denkwahrnehmungen werden bei uns gewöhnlichen Wesen zu dem, was auf Tibetisch „nang la ma nge pa“ bezeichnet wird: „erscheinend, aber unverstandene“ Geisteszustände. Das, was wir verstehen, verstehen wir vor allem durch Vorstellung. Unsere Denkwahrnehmung versteht nicht, da sie nur einen Augenblick auftritt. Und in diesem Augenblick verstehen wir eben nicht.
Die nächste Art der Wahrnehmung ist die yogische Wahrnehmung. Ihr Definition lautet:
Die yogische Wahrnehmung ist die vorstellungsfreie, ungetäuschte Erkenntnis eines Arya-Wesens, die auf der Grundlage ihres spezifischen Besitzumstands, der Vereinigung von Samatha und Vipassana entsteht.
Dies ist also eine ganz besondere Art der Wahrnehmung, die in unserem Kontinuum im Moment gar nicht vorhanden ist. Um eine solche yogische Wahrnehmung erlangen zu können, müssen wir zuerst als Grundlage die Meditation des Samatha, dann die Meditation des Vipassana sowie deren Verbindung erlangen. Anders ausgedrückt, es ist die Verbindung von konzentrativer und analytischer Meditation zu verwirklichen, um diese spezifische Fähigkeit des Geistes zu erlangen. Auf der Grundlage solcher spezieller Meditationen wird es einem dann möglich, die Zusammenhänge der subtilen Unbeständigkeit und der Identitätslosigkeit direkt wahrzunehmen. In der Sautrantika-Schule heißt es, dass die yogische Wahrnehmung lediglich im Kontinuum eines Arya-Wesens auftritt. In der Prasangika-Madhyamika-Schule hingegen besteht die Auffassung, dass es sie nicht ausschließlich dort gibt. Dies ist kurz gesagt das, was unter „yogischer Wahrnehmung“ zu verstehen ist.
Darüber hinaus gibt es dann noch in den Schulen, die sie akzeptieren, als vierte Klassifikation die selbsterkennende Wahrnehmung. Was ist unter einer solchen Selbsterkenntnis zu verstehen? Für diejenigen, die sie postulieren, ist sie ein Zustand des Geistes, der die anderen Geisteszustände erfasst und aufzeichnet. Sinneswahrnehmung, Denkwahrnehmung und yogische Wahrnehmung werden hier als „Fremderkenntnis“ bezeichnet, weil sie Zustände des Geistes sind, die nicht sich selbst, sondern „fremde“, nämlich andere Objekte erfassen. Im Gegensatz hierzu wird eine sogenannte „Selbsterkenntnis“ postuliert, die gleichzeitig auftritt, den eigenen Geist erfasst und seine Aktivität aufzeichnet.
Die Schulen, die dies annehmen, betrachten die Selbsterkenntnis als etwas sehr Wichtiges und führen auch viele Begründungen für ihre Existenz auf. Sie gehen davon aus, dass ein Geisteszustand, der ein äußeres Objekt erkennt, gewissermaßen auch einen Zeugen dafür benötigt, dass er es erkannt hat. Wenn man als solchen Zeugen nun die Existenz eines Geisteszustand behauptet, der von anderer Substanz ist als der erfassende Geisteszustand, dann müsste man für diesen wiederum einen Zeugen haben, für den wiederum einen Zeugen und käme so zu einer endlosen Kette. Aus diesem Grund geht man davon aus, dass der Geisteszustand, der ein äußeres, fremdes Objekt erfasst, gleichzeitig auch einen selbsterfassenden Aspekt hat.
Allen Geisteszuständen wird so die Eigenschaft zugeschrieben, dass sie einen Aspekt des Erfassens des entsprechenden Objektes haben sowie einen Aspekt des Sich-selbst-Erfassens. Die Analogie, die die Vertreter der Selbsterkenntnis anführen, ist die des Glases, durch das ein Objekt erscheint, so dass das Glas die Farbe des dahinter liegenden Objekts annimmt. Einerseits ist der Aspekt des Annehmens der Farbe des dahinter liegenden Objektes vorhanden, andererseits der klare Aspekt des Glases. Letzterer entspricht der Selbsterkenntnis, während das Annehmen der Farbe des dahinter liegenden Objektes für die Fremderkenntnis steht.
Diejenigen, die diese Selbsterkenntnis widerlegen, finden an diesem Beispiel dann auch sehr schnell Fehler. Die Kritik, die sie anbringen, ist die folgende: Das Glas hat einen Aspekt des Klarseins. Wenn jedoch ein farbiges Objekt hinter das Glas gelegt wird, nimmt das Glas die Farbe dieses Objektes an und verliert damit diesen klaren Aspekt. Es kann also nicht gleichzeitig die Aspekte des Durchsichtigseins und des Annehmens der Farbe haben.
Die Auffassung der Gleichzeitigkeit von durchsichtigen und farbannehmenden Aspekt ist demnach als eine Fehlauffassung anzusehen: Die Eigenschaft des Glases zum Zeitpunkt, als keine Farbe in ihm erscheint, bleibt nicht bestehen, wenn eine Farbe in ihm erscheint. Solche Debatten werden hier geführt. Für diejenigen, die sie postulieren, ist die Selbsterkenntnis sehr wichtig. Sie sagen, dass wir ohne sie nicht in der Lage wären, uns die Erfahrung einer früheren Wahrnehmung wieder in Erinnerung zu rufen. Wenn wir gestern eine blaue Farbe gesehen haben, sind wir heute noch in der Lage, uns an diese Erfahrung zu erinnern, weil eine Selbsterkenntnis beim Erfassen der blauen Farbe diesen Vorgang aufgezeichnet hat.
In Wirklichkeit ist dies jedoch nicht notwendig, denn die Erinnerungsfähigkeit des Geistes allein genügt, um ein solches Erinnern an eine frühere Erfahrung zu ermöglichen. Die Erinnerungskraft allein ist also stark genug, um das gestrige Erfahren der blauen Farbe auch heute wieder ins Gedächtnis zu rufen, auf der Grundlage der Verbindung zwischen der Erinnerungsfähigkeit des Geistes und dem Bewusstsein, das die entsprechende Farbe erfasst hat. Das, was die Erinnerung beinhaltet, ist die Verbindung des Geistes mit der erfassten blauen Farbe. Beim Erfassen der blauen Farbe besteht eine Verbindung zwischen dem Geist und der erfassten blauen Farbe, und diese Verbindung ist es, die die Erinnerung ins Gedächtnis rufen kann. Somit sind keine selbsterkennenden Geisteszustände notwendig, die als Aufzeichner funktionieren. Viele solcher Debatten gibt es, die die Selbsterkenntnis widerlegen. Für ihre Anhänger jedoch ist es ein ganz wichtiger Faktor. Die Definition einer selbsterkennenden Wahrnehmung lautet:
Die selbsterkennende Wahrnehmung ist eine ungetäuschte, vorstellungsfreie Erkenntnis, die ausschließlich nach innen gerichtet ist und nur Geist erfasst.
Dies sind also die vier Arten der Wahrnehmung: die Sinneswahrnehmung, die Denkwahrnehmung, die yogische Wahrnehmung und die selbsterkennende Wahrnehmung. Unterteilen wir die Sinneswahrnehmung weiter, sprechen wir von „Primär-Sinneswahrnehmung“, dem ersten Augenblick einer Sinneswahrnehmung, und der „Folge-Sinneswahrnehmung“, den nachfolgenden Augenblicken einer Sinneswahrnehmung.
Weiterhin gibt es etwas, das als „Erscheinend, aber unverstandene Sinneswahrnehmung“ bezeichnet wird. Wenn wir unseren Sehsinn auf eine Form richten, dann ist der erste Augenblick, in dem wir diese Form erkennen, eine Primär-Sinneswahrnehmung des Seh-Bewusstseins, während die nachfolgenden Augenblicke Folge-Sinneswahrnehmungen des Seh-Bewusstseins sind. Betrachten wir nun den Zustand, in dem man von einer wohlklingenden Musik vollständig abgelenkt ist: Der Geist ist ganz auf die gehörte Musik gerichtet, während man gleichzeitig ein Buch liest. In diesem Fall wird das Seh-Bewusstsein sehr wohl die Buchstaben des Buches erfassen, da der Geist aber ganz von der Musik abgelenkt ist, ist die Wahrnehmung der Buchstaben mit dem Seh-Bewusstsein eine Erscheinend, aber unverstandene Sinneswahrnehmung. Die Augen sind auf die Buchstaben gerichtet, man wäre durchaus auch in der Lage zu lesen, aber man behält nichts, weil die Aufmerksamkeit des Geistes ganz auf die angenehme Musik gerichtet ist. Eine solche Wahrnehmung der Buchstaben ist eine Sinneswahrnehmung, allerdings zu klassifizieren als eine erscheinend, aber unverstandene.
Das Gleiche gilt für die Denkwahrnehmung: Beim Erfassen eines Objektes mit der Denkwahrnehmung gibt es einen ersten Augenblick, der eine Primär-Denkwahrnehmung ist. Die nachfolgenden Augenblicke sind dann Folge-Denkwahrnehmungen. Und schließlich gibt es auch die Erscheinend, aber unverstandene Denkwahrnehmung.
Das für eine Denkwahrnehmung angeführte Beispiel ist die Erhöhte Wahrnehmung, die den Geist eines anderen Wesens erfasst. Sie ist eine Denkwahrnehmung, ihr erster Augenblick eine Primär-Denkwahrnehmung, und die nachfolgenden Augenblicke Folge-Denkwahrnehmungen. Genauso gibt es auch eine Erscheinend, aber unverstandene Denkwahrnehmung. Beispiele hierfür sind die Augenblicke der Denkwahrnehmung bei uns gewöhnlichen Wesen, von denen vorhin die Rede war. Wenn wir also mit unserem Seh-Bewusstsein Form betrachten, dann tritt mit der Sinneswahrnehmung auch eine Denkwahrnehmung auf, allerdings nur ein Augenblick, dann wird daraus sofort eine Vorstellung. Dieser erste Augenblick der Denkwahrnehmung, wie er bei uns auftritt, wäre dann eine Erscheinend, aber unverstandene Denkwahrnehmung. Ein anderes häufiges Beispiel ist, wenn unser Seh-Bewusstsein auf eine attraktive Gestalt gerichtet ist und wir gleichzeitig Unterweisungen zuhören. Die Denkwahrnehmung, die dabei auftritt, wäre auch eine erscheinend, aber unverstandene, und zwar deshalb, weil die ganze Aufmerksamkeit auf die attraktive Gestalt gerichtet ist. Das ist etwas, was bei uns immer wieder auftritt. So sind also die Denkwahrnehmungen bei uns zum größten Teil erscheinend, aber unverstandene.
Bei der yogischen Wahrnehmung gibt es ausschließlich Primär- und Folgewahrnehmungen, hingegen keine erscheinend, aber unverstandene Wahrnehmungen, da eine yogische Wahrnehmung ihr Objekt immer verstehen wird. In der Prasangika-Schule handelt es sich bei der yogischen Wahrnehmung ausschließlich um Primärwahrnehmung, hier jedoch gibt es die Unterscheidung zwischen yogischer Primärwahrnehmung und yogischer Folgewahrnehmung, da Folgeerkenntnis nicht als Primärerkenntnis angesehen wird.
Beispiele solcher yogischer Primärwahrnehmungen wären die Primärwahrnehmungen, die die subtile Unbeständigkeit oder die Identitätslosigkeit direkt erfassen. Bei der yogischen Primärwahrnehmung handelt es sich immer um subtile Objekte, denn für das Erkennen grober Objekte benötigt man keine yogische Wahrnehmung. Das direkte Erkennen solcher subtiler Objekte ist nur dann möglich, wenn als Grundlage die Verbindung von konzentrativer und analytischer Meditation erlangt worden ist. Die Fähigkeiten unseres Geistes bieten hierfür keine hinreichende Basis. Wir müssen unseren Geist also ein bisschen schulen und trainieren, um diese speziellen Fähigkeiten zu entwickeln. Dann können auch wir solche subtile Zusammenhänge und Objekte direkt wahrnehmen.
Bei der selbsterkennenden Wahrnehmung wird wieder unterschieden zwischen Primärwahrnehmung, Folgewahrnehmung und Erscheinend, aber unverstandener Wahrnehmung. Die ersten beiden Fälle sind leicht zu erschließen: Es sind der erste und die nachfolgenden Augenblicke einer solchen selbsterkennenden Wahrnehmung. Was ist dann ein Beispiel für eine Erscheinend, aber unverstandene selbsterkennenden Wahrnehmung? Erinnern wir uns an die Aufzählungen für Erscheinend, aber unverstandene Denkwahrnehmungen, dann können wir sagen, dass die selbsterkennenden Wahrnehmungen, die diese zugrundeliegenden Denkwahrnehmungen immer begleiten, erscheinend, aber unverstandene sind.
Scheinwahrnehmung
Dies waren einige grobe Erläuterungen zur Wahrnehmung und insbesondere zur Primärwahrnehmung. Nun stellt sich die Frage, ob in Bezug auf den Ausdruck „Wahrnehmung“ noch weitere Unterteilungen gemacht werden. Dies ist der Fall: Es gibt noch die sogenannte „echte Wahrnehmung“ und die „scheinbare Wahrnehmung“. Die bisher beschriebenen Arten der Wahrnehmung waren echte Wahrnehmungen. Was ist also die Definition einer scheinbaren Wahrnehmung oder Scheinwahrnehmung? Sie lautet:
Die Scheinwahrnehmung ist eine Erkenntnis, die in ihrem Erscheinungsobjekt getäuscht ist.
Um diese Definition zu verstehen, müssen wir also zunächst beschreiben, was mit „Erscheinungsobjekt“ gemeint ist. Da wir jedoch nun schon eine Menge neuer Definitionen, Ausdrücke und technische Beschreibungen kennengelernt haben, befürchte ich, es könnte ein bisschen viel werden, wenn wir hier fortfahren. Was vielleicht noch nützlich ist, um morgen etwas leichter vorwärts zu kommen, ist die Unterscheidung zwischen drei Arten von Objekten, die der Geist erfasst: das erscheinende Objekt als das „Erscheinungsobjekt“; das Objekt, an dem der Geist haftet als das „Anhaftungsobjekt“; und das erfasste Objekt als das „Erfassungsobjekt“.
Zunächst zum Erscheinungsobjekt: Alles, was existiert, ist auch ein Erscheinungsobjekt der Wahrnehmung, da alles der Wahrnehmung erscheint. Unserer Wahrnehmung erscheint zwar nicht alles, aber alles Existente ist ein Objekt von Wahrnehmung, da die allwissende Weisheit eine Wahrnehmung ist und alles Existente ein Erscheinungsobjekt dieser allwissenden Wahrnehmung. Weiter können wir auch sagen, dass alles Existente von Wahrnehmung erfasst werden kann und es auch insofern als „Erscheinungsobjekt der Wahrnehmung“ bezeichnen. Was wir als „Anhaftungsobjekt“ bezeichnet haben, ist etwas, das nur bei der Vorstellung vorkommt. Das erfasste Objekt ist auch als das Objekt der Art und Weise der Erfassung zu verstehen. Was diese Objekte bedeuten, werde ich morgen erklären.